
Interpretationssache Netzanschluss: Wie die 5 %-Regel Projekte ins Wanken bringt
Im ersten Teil haben wir das Netzanschlussverfahren als Nadelöhr der Energiewende beschrieben. In dieser Fortsetzung vertiefen wir einen Aspekt, der zunehmend für Spannungen zwischen Projektierern und Netzbetreibern sorgt: die Auslegung der 5 %-Regel für schnelle Spannungsänderungen.
Die VDE-AR-N 4110 schreibt vor, dass schnelle Spannungsänderungen im Netz nicht größer als 5 % sein dürfen. Ursprünglich wurde diese Regelung für regelmäßige Schaltvorgänge geschaffen – also für Fälle, in denen Anlagen mehrfach täglich ein- oder ausgeschaltet werden.
In der Praxis wenden einige Netzbetreiber diese Vorgabe inzwischen auch auf seltene Schaltungen an, etwa auf Wiedereinschaltungen nach Wartungen oder nach Schutzabschaltungen, die nur wenige Male pro Jahr vorkommen. Diese strengere Auslegung führt dazu, dass bei geringen Netzkurzschlussleistungen und großen Transformatoren der Grenzwert überschritten wird – selbst wenn dies nach bisherigem Konsens als unkritisch galt. Früher genügte in solchen Fällen der Vermerk im Zertifikat, ohne dass zusätzliche technische Maßnahmen erforderlich waren.
Die Auswirkungen sind erheblich. Projektierer verlieren Planungssicherheit, wenn eine Anlage, die nach dem bisherigen Standard ausgelegt wurde, plötzlich als nicht konform gilt. Werden zusätzliche Nachweise oder sogar technische Nachrüstungen wie Einschaltstrombegrenzer verlangt, entstehen unvorhergesehene Kosten. Noch schwerer wiegt, dass das Vertrauen in einheitliche Regeln leidet. Wenn gemeinsame Standards stillschweigend anders interpretiert werden, steht die gesamte Kalkulation eines Projekts auf dem Spiel.
Wenn der Prozess zum Risiko wird
Die formale Reihenfolge – erst Zertifizierung, dann Bau – lässt sich in der Realität kaum einhalten. Allein die Zertifizierung nimmt zwischen sechs und zehn Monaten in Anspruch. Dazu kommen Wartezeiten von bis zu fünf Monaten, in denen Netzbetreiber die für die Zertifizierung notwendigen Unterlagen bereitstellen müssen. Dies hat in der Branche auch schon vor Einführung der VDE-AR-N 4110 dazu geführt, dass – wissentlich aller risikobehafteten und prozessorientieren Details – die Bestellung der Komponenten (auch hier Lieferzeit bis zu einem Jahr – beispielsweise aktuell Trafostationen) schon dann stattfindet, wenn die Ausführungsplanung erstellt ist.
Früher halfen pragmatische Lösungen, etwa Unbedenklichkeitsbescheinigungen, um kleinere Abweichungen abzufedern. Diese weisen zwar auf die Abweichung hin, ermöglichen aber dem Netzbetreiber, die Geringfügigkeit einordnen zu können. Doch diese Spielräume schwinden. Immer häufiger rügen Netzbetreiber Abweichungen selbst dann, wenn sie im Rahmen des Projektdialogs früher akzeptiert worden wären.
Kommt man auf das anfänglich behandelte Beispiel der schnellen Spannungsänderung zurück, muss konstatiert werden, dass nun selbst klare Formulierungen in der Norm zulasten der Anlagenbetreiber bzw. Projektierer seitens der Netzbetreiber umgedeutet werden.
Netzstabilität ist gerade in Zeiten wachsender volatiler Einspeiser ein Hauptthema geworden und solange weder der notwendige Netzausbau, noch der dringend benötigte Speicherzuwachs nicht mit der benötigten Geschwindigkeit vorankommt, ist die technische Argumentation aus Sicht des Netzbetreibers nachvollziehbar.
Diese Entwicklung schafft eine Lücke, die Projekte empfindlich treffen kann. Denn es bleibt oft unklar:
- Wer entscheidet über zusätzliche Anforderungen – der Zertifizierer oder der Netzbetreiber?
- Wann sind diese Anforderungen verbindlich – bei der Einreichung der Unterlagen, beim Zertifikat oder erst bei der endgültigen Betriebserlaubnis?
Wer trägt die Kosten, wenn eine Anlage gebaut, aber nicht in Betrieb genommen werden darf?
Die rückwirkende Änderung von zugesagten Netzanschlussleistungen ist aus Sicht der Projektierer nicht hinnehmbar. Zugleich müssen Netzbetreiber einen sicheren Betrieb gewährleisten. Hier prallen zwei berechtigte Interessen aufeinander, die jedoch durch einen klaren Prozess in Einklang gebracht werden könnten.
Unser Fazit
Die technische Argumentation der Netzbetreiber ist nachvollziehbar – Netzstabilität ist ein hohes Gut. Doch wenn Anforderungen erst kurz vor oder gar nach der Inbetriebnahme gestellt werden, entsteht eine Situation, die weder der Planungssicherheit noch der Energiewende dient.
Was es jetzt braucht, sind klare Regeln und eine verbindliche Kommunikation:
- Frühzeitige Rückmeldung zu relevanten Netzparametern
- Verlässliche Anwendung der Norm, ohne nachträgliche Interpretationsänderungen
- Klare Rollenteilung zwischen Zertifizierern und Netzbetreibern
Einheitliche Standards, die Projekte absichern
Die Auslegung technischer Regeln darf nicht zum Bremsklotz für Projekte werden. Netzsicherheit und Projekterfolg müssen sich nicht widersprechen – wenn alle Beteiligten rechtzeitig und transparent handeln.
Hinweis: Dieser Artikel gibt unsere Praxiserfahrungen wieder und ersetzt keine rechtliche Beratung.
Sprechen Sie uns an, wenn Sie Projekte realisieren möchten – wir unterstützen Sie mit unserer praktischen Erfahrung.